Berninapass - eine unendliche Geschichte . . .

Der Verlauf des Passübergang in Nord-Süd-Richtung vom Engadin ins Puschlav verbindet das obere Inntal von Pontresina (1'805 m ü. M.) mit Poschiavo (1'014 m ü. M.) im schweizerischen Veltlin auf einer Gesamtstrecke von etwa 32 Km.

Bernina, Passhöhe


Passhöhe: 2.328 m

Steigung: max. 12 %

Passlänge: 56 km, Samedan (CH) - Tirano (IT)

Bau der Fahrstrasse: 1842 - 1865

Eröffnung Ospizio Bernina: 1865

Durchgehende Strassenverbindung seit: 1910 - zwischen Schweiz / Kt. GR und Italien / Veltlin

Betriebsaufnahme Berninabahn St.Moritz - Tirano: 1910

Ganzjähriger Bahnbetrieb seit: 1913

Ganzjährige Befahrbarkeit der Passstrasse seit: 1965

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Vorzeit

Der Berninapass war für den heute grössten schweizer Kanton Graubünden immer ein wichtiger, regionaler Nord-Südübergang (2328 m) zwischen dem Oberengadin mit Pontresina und Poschiavo im Puschlav.

Für den mittelalterlichen Transitverkehr jedoch hatte er zu jener Zeit nur wenig Bedeutung, da sich dieser damals primär über die westlichen Pässe und Chiavenna (Splügen-, Malojapass) abwickelte.

Der Berninapass stellt eine jahrtausendealte Verbindung der uralten Kulturlandschaften des Oberen Engadins um St. Moritz mit dem Veltlin dar. Dies belegen zahlreiche in St. Moritz gemachte Funde, die bis in die Bronzezeit zurück datieren.

Auch auf der südlichen Seite des Bernina im schweizerischen Veltlin traf man auf derartige Funde. Unter anderen fand man zahlreiche steinzeitliche Menhire mit rätselhaften Ritzzeichnungen, wie man sie in grossen Teilen Europas fand. Aus diesen Funden kann geschlossen werden, dass es schon in vorhistorischer Zeit einen Passverkehr über die Bernina gab.

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Bernina-Gruppe mit Gletscher

Saumpfad an der Baumgrenze auf der Bernina

Der wirtschaftliche Aufstieg dieser Alpenüberquerung begann eigentlich erst im hohen Mittelalter und erst im späten Mittelalter errang der Pass dann eine wesentlichere Bedeutung für den sich entwickelnden Handel.

Bereits Anfang des 15. Jahrhunderts verpflichteten sich die Bündner Talgemeinden gegenüber den Veltliner Gemeinden, den Weg bis Ausgang des Puschlavs zu unterhalten. Dies erwies sich als gute Investition und begünstigte den sich anbahnenden Transithandel.

Wichtigkeit erreichte diese Regionalverbindung dann, als die «Drei Bünde» (Freistaat im Gebiet des heutigen Kantons Graubünden, welcher im 14. und 15. Jahrhundert entstand) im Jahre 1512 das Veltlin eroberten und damit Grenznachbarn der Republik Venedig wurden.

Der Landgewinn ging mit einem zunehmenden Grenzverkehr zum südlichen Nachbar einher und die ersten Aufzeichnungen des Wegverlaufes über den Pass datierten aus dieser Zeit.

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Gemäss alten Überlieferungen wurde die Südflanke der Bernina ab Passhöhe auf zwei verschiedenen Routen begangen.

In den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhundert wurde primär die Ostroute über das zur damaligen Zeit als Dauersiedlung betriebene Pisciadel, benutzt. Der Ausbau zur befestigten Strasse datierte in alten Aufzeichnungen auf das Jahr 1645. Diese Streckenführung liegt der im Jahre 1865 fertiggestellten Fahrstrasse über die Bernina zugrunde.

Die sogenannte Westroute wurde bereits 1552 ausgebaut und führte über Cadera und Cavaglia zum Pass, was in etwa der heutigen Linienführung der Berninabahn entspricht. Die Bevorzugung der einzelnen Route wechselte im Laufe der Zeit, abhängig von Wetter, Schneelage und Strassenzustand, immer wieder.

Die Unterhaltspflicht der Wegstrecke wurde an die beiden Anliegergemeinden der Passstrecke delegiert.

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Lago Bianco

Morteratsch-Gletscher

Alte Aufzeichnungen belegen, dass diese eine sachdienliche Lösung fanden indem sie die Grenze der Zuständigkeitsbereiche auf die Passhöhe legten. Die Markierung bildeten zwei mächtige, beim Lagh da la Cruseta aufgestellte Kreuze.

Bemerkenswert ist die seinerzeitige Zweckmässigkeit der Lösungsfindung deshalb, weil das Gemeindegebiet Poschiavos über den Pass hinweg nach Norden reichte.

Durch diese Verträge war die Basis des Transitverkehr gefestigt und der pass- und grenzüberschreitende Handel nahm seinen Lauf. Wurden doch bereits zu Zeiten des Saumverkehrs Wein und Korn aus dem heutigen Italien nach Norden befördert und aus Graubünden Vieh und Käse nach Süden. In Funden aus jener Zeit wurde ein, seit dem Jahre 1519 existierendes, mit einer Kapelle versehenes Hospiz erwähnt.

Desweiteren gilt als gefestigt, dass im Bereich der Passhöhe ausser dem Hospiz auch eine Sust (Güterumschlagplatz, in der Regel ein Lagerhaus mit Verwaltungsteil) existierte, die 1570 an den Piano dal Cambrena am nordwestlichen Ufer des Lago Bianco verlegt wurde.

Einen eigentlichen Höhepunkt erreichte der Berninaverkehr um das Jahr 1550. Ab dieser Zeit unterhielt Frankreich einen permanenten Kurierdienst zwischen Lyon und Venedig. Vorläufer war der schon früher eingerichtete Postdienst zwischen Chur GR / CH und Aprica / IT.

Diese Kurierdienste benützten über die Westalpen kommend die Pässe Albula, Bernina und Aprica. Schon im Mittelalter suchten die Reisenden eine zügige Verbindung aus dem Engadin/CH über den Bernina kommend hinüber ins Valcamonica/IT und weiter über den Passo di Tonale ins Trentino/IT.

Alten Aufzeichnungen zufolge gab es auf der Strecke acht Poststationen mit ausgebauter Infrastruktur.

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Aus wirtschaftlichen Gründen ging die Blühtezeit des Berninapass in den letzten Jahren des 16. Jahrhunderts langsam dem Ende zu.

Der «neue» Weg über die Alpen führte, von Bergamo in Italien herkommend über den Apricapass ins untere Veltlin nach Morbegno und wurde 1593 eröffnet.

Der schon früher bestehender Saumpfad wurde als Wagenweg ausgebaut und St. Marcusstrasse genannt.

Die Fortsetzung dieser s.g. St. Marcusstrasse nach Norden über den Splügenpass, an der Grenze Italien / Schweiz, eröffnete neue Perspektiven für die «Porten», das alte Transportgewerbe und den Handel.

Trotz dieser neu ausgebauten Alpenüberquerung wurde der Berninapass auch weiterhin von Handel, Kurierdiensten und sonstigem Reiseverkehr frequentiert.

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Piz Bernina - sunrise

Piz Bernina - Diavolezza

Neuzeit

Die früheren Besitztümer der Schweiz erstreckten sich bis weit in die Provinz von Tirano im Süden und umfassten einen Grossteil des heute italienischen Veltlin. Napoleon schlug diese Landstriche später den Italienern zu, was bis heute so geblieben ist. Allerdings war das Veltlin nicht mit Zustimmung der Bevölkerung 1639 annektiert worden, man schloss lediglich einen Bund mit den Bündnern gegen Mailand.

Die friedliche Situation von heute täuscht etwas über die blutige Vergangenheit hinweg: Nicht nur nach Land gelüstete es die Eidgenossen, sie brachten auch ihre protestantische Religion mit, was zu anhaltenden Religionskriegen Anlass gab. «Jürg Jenatsch» von C.F. Meyer (1876 erschienener historischer Romans über den Bündner Pfarrer und Militärführer) ist die literarische Aufbereitung dieses Umstandes.

In der Neuzeit wurde der grenzüberschreitende Handel durch die Grenzanreiner organisiert und standardisiert.

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Ab dem Jahr 1650 wurden Zölle erhoben für Kastanien, Seife, Tuch, Hanf, Leinen, Seide, Eisen, Käse und den schon damals bekannten Ziger (eine schweizer Käsespezialität). Desweiteren wurden für fremdes Vieh wie Kühe und Ochsen, Pferde, Schafe und Ziegen Gebühren eingezogen.

In den Jahren 1842-65 wurde, mit Abweichungen dem Trasse der Ostroute folgend, die Kunststrasse für den Wagenverkehr gebaut. Mit Baubeginn im Juli 1906 wurde in Anlehnung an die ehemalige Westroute die ebenso kunstreich geführte Linie der Berninabahn erstellt. Die Bauarbeiten der Gesamtstrecke St. Moritz - Tirano wurden am 5. Juli 1910 abgeschlossen.

In vortouristischen Zeiten war der Bernina-Pass durch seine Lage eine willkommene Militär- und Handelsstrasse. Daraus ergaben sich intensive Kontakte wirtschaftlicher und politischer Natur zum benachbarten Italien. Ist doch die Berninaregion sprachlich zweigeteilt:

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Piz Bernina - Lago Poschiavo

Piz Bernina - Biancograt

Im Norden des Passes spricht man rätoromanisch, das Rumantsch, im Süden italienisch.

Eine noch vor 200 Jahren als feindselige und schwer zugänglich erscheinende Landschaft bildet heute die Grundlage eines florierenden Tourismus.

Primär trug die intensive Verbesserung der Verkehrswege aber auch die neuen Erkenntnisse über die Heilwirkung des Gebirgsklimas, zur Entwicklung des modernen Tourismus in Graubünden bei.

Um dem sich immer stärker entwickelnden Sporttourismus Rechnung zu tragen sind seit den 1960er Jahren entlang der Passstrasse zahlreiche Bergbahnen und Skilifte entstanden.

Die Förderung des Tourismus in sensitiven Landschaften hat auch ihre Schattenseiten. Erwähnt seien hier Heli-Skiing oder das umstrittene Projekt der Elektrizitätswerke Brusio AG am Lago Bianco. Der Höherstau des, bereits mit zwei Staumauern angestauten See um weitere 17 m wurde abgelehnt, er drohte die Passlandschaft stark zu verändern. Ein neues Projekt, welches die Staumauer um 4.35 m erhöht wurde inzwischen (Okt. 2010) an der Urne gutgeheissen .

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Strassenverlauf

Die Ostalpen, in denen die Bernina beheimatet ist, sind majestätische Zeitzeugen, die sich vor Millionen von Jahren aus den Auffaltungen der Kontinentalplatten erhoben.

Ihre berühmtesten Gipfel schrieben und schreiben Bergsteiger-Geschichte, allen voran der Piz Bernina und der Piz Palü. Ihre einzigartige Zusammensetzung aus schmalen Graten, spitzen Höhen und changierend blauen Bergseen versetzen den Betrachter in Staunen.

Das Gebirgsmassiv rund um das Engadiner Hochtal geizt nicht mit Highlights: Eisige Gletscher, Ausblicke auf den «Festsaal der Alpen» mit seinen Drei- und Viertausendern oder die Engadiner Seen, die sich im Tal silbern erstrecken.

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Passhöhe, Ospizio Bernina

Strecke Bernina-Express:

km   0.0 St. Moritz
km   3.5 Punt Muragl Staz
km   5.8 Pontresina
km 12.2 Morteratsch
km 15.7 Bernina Suot
km 16.8 Bernina Diavolezza
km 17.9 Bernina Lagalp
km 22.3 Ospizio Bernina
km 27.1 Alp Grüm
km 33.1 Cavaglia
km 42.0 Poschiavo
km 54.3 Li Curt
km 48.0 Le Prese
km 50.8 Miralago
km 53.9 Brusio
km 57.7 Campocologno
km 60.7 Tirano

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Der junge Inn


Von St. Moritz herkommend folgen wir kurzzeitig dem Lauf des jungen Inn und beginnen unsere virtuelle Pass-Fahrt in Pontresina.

Ein schmuckes oberengadiner Städtchen, das durch seine guterhaltenen Häuser und Hotelpaläste hervortritt. Weniger pompös als St. Moritz, doch wohlhabend und gediegen.

Die, im Laufe der Jahre mehrfach verbreiterten Passstrasse begleidet uns. Sie wird seit 1965 ganzjährig offen gehalten, obwohl auf dem Pass teilweise während ca. acht Monaten im Jahr Schnee liegt. Eine wetterbedingte Sperrung der Strasse ist durchaus möglich.

An der Strecke über die Bernina liegen nicht nur mondäne Orte wie St. Moritz oder Pontresina, nein, sie führt uns hoch hinauf in eine grandiose Landschaft um den östlichsten Viertausender der Alpen, das Bernina-Massiv, herum.

Das Engadin ist eine Landschaft «on the rocks»: 173 Gletscher bedecken hier eine Fläche von 40 km2 (6 % des Oberengadin) und mäandern rund um die höchsten Gipfel der Ostalpen wie die Eiswürfel um den Zitronenschnitz im Martini.

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Unsere Strecke folgt im Val Bernina dem Lauf des Berninabach (rät. Ova da Bernina) bzw. dem auf der anderen Flussseite verlaufenden Trasse der Bernina-Bahn.

Der schäumende Bach durchfliesst von der Passhöhe herkommend mit einem der beiden Queläste den Lej Nair. Beide Queläste entspringen den nordseitigen Gletschern der Berninagruppe und entwässern u.a. Morteratsch-, Pers- und Tschiervagletscher.

Vorbei an der Station Morteratsch überqueren wir die Ova da Morteratsch und nähern uns der grossen Serpentine - plötzlich fahren wir Richtung Norden.

Nach dem Übergang der Strasse über des Bahn-Trasse eröffnet sich unvermittelt eine gigantischen Aussicht: Vor uns erheben sich majestätisch die Firn- und Gletschergipfel des Bernina-Massivs: Piz Bernina (4049m), Piz Zupo (3996m) und Piz Morteratsch (3751m).

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Piz Zuppo, Piz Bernina

Piz Palü, Piz Morteratsch

Besonders sticht der Biancograt, einer der schönsten Firngrate der Alpen hervor, bei klarem Wetter ein Erlebnis par excellence !

Die unbestrittene Nummer eins ist der Morteratschgletscher, mit rund 7 km der längste Gletscher im Engadin. Ein ebenso eindrückliches Naturschauspiel bieten auch weitere Gletscher der Region wie Roseg-, Tschierva-, Sella und Persgletscher.

Unter der winterlichen Schneedecke sind die gewaltigen weissen Riesen kaum zu erkennen. Es zeichnen sich höchstens vereinzelt Gletscherspalten ab, die einen eindrücklichen Blick ins Blaue des ewigen Eises eröffnen.

Ebenso faszinierende Einsichten gewähren die Eishöhlen, die entstehen, wenn sich das relativ warme Schmelzwasser im Sommer seinen Weg nach draussen bahnt.

Ob ein Gletscher wächst oder schrumpft, hängt damit zusammen, wie

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viel Gletschereis im s.g. Nährgebiet oberhalb der Schneegrenze nachwächst. Dieses Eis entsteht nicht aus gefrorenem Wasser, sondern aus jenem Schnee, der im Sommer nicht wegschmilzt. Damit ein Gletscher im Gleichgewicht ist, muss das Nährgebiet doppelt so gross sein wie das «Zehrgebiet» unterhalb der Schneegrenze, wo das Eis schmilzt.

Folgen wir dem Pass weiter bergan: Links von uns erhebt der Piz Albris seine felsige Flanke, ein Steinwildparadies, gegenüber steht eine moderne Gondelanlage, die Touristen auf den Gipfel der Diavolezza (2978 m) mit gewaltiger Aussicht bringt.

Umgeben von mehreren Dreitausendern und hoch über den Gletschern Pers und Morteratsch, ist die Diavolezza eine beeindruckende Kulisse für den Sommer- und Wintersport.

Hochgebirgstouren, Gletscherwandern und eine zehn Kilometer lange Talfahrt Richtung Morteratsch, die längste Gletscherabfahrt der Schweiz, führen mitten in die herbe Schönheit der Landschaft. Ganzjährig führt die Kabinenseilbahn, deren Talstation direkt bei der Haltestelle des Bernina-Expresses liegt Touristen hinauf.

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Diavolezza 2978 m, Berghaus

Panorama der Berninagruppe von der Bergstation LSB Corvatsch

Im weiteren Verlauf der langsam steigenden Strasse passieren wir zwei kleine Bergseen, Lej Pitschen (kleiner See) und Lej Nair (schwarzer See) bevor es wieder steiler wird in nun wilder und felsiger Umgebung. Der Lej Nair gilt als die offizielle Quelle des Inn.

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Wasserscheide, Lej Nair / Lago Bianco

Zwischen dem grossen, weisslichen Lago Bianco (weisser See) und dem vorderen kleineren Lej Nair (schwarzer See) liegt eine Wasserscheide. Das Wasser, das in den Lago bianco fliesst entwässert in Richtung Italien in den Po. Das Wasser vom Lej Nair fliesst in das Inn-Donau System Richtung Osten.

Diese faszinierende Wasserscheide lenkt das Wasser also entweder gen Süden in das Mittelmeer oder in nordöstlicher Richtung in das Schwarze Meer.

Die beiden Seen Lej Nair und Lej Pitschen liegen in einem ausgedehnten Hochmoor-Gebiet welches unter Naturschutz steht.

Dieser Umstand führte auch zum Namen «Lej Nair». Der Lago Bianco wird primär von den umliegenden Gletschern und jenen der Berninagruppe gespeist. Deren milchigweissen Zuflüssen verdankt er auch den Namen.

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Man beachte auch, dass die Wasserscheide zugleich die sprachliche Scheide von Romanisch und Italienisch ist (Lago - italienisch und lej - romanisch).

Einige steile Kehren weiter, verlässt die Berninabahn die Strasse und zieht ihre eigene Bahn zum Bernina-Hospiz, während die Strasse noch hundert Höhenmeter und einige Kurven bis zur Passhöhe überwindet.

Hier oben weht oft ein rauher Wind, aber man wird entschädigt, durch den fantastischen Ausblick auf den zerklüfteten Piz Cambrena (3604m), dessen zerschrundeter Gletscher über die felsige Flanke ragt.

Das Hospiz auf dem luftigen Passo del Bernina diente auf der viel begangenen Nord-Süd-Handelsroute zwischen dem milden Veltlin und dem rauen Norden während Jahrhunderten als Raststelle und Güterumschlagplatz für die Säumer.

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Nord-Südsicht auf Lej Pitschen, Lej Nair, Lago Bianco

Ospizio Bernina

Das heutige, massive Gebäude des Bernina-Hospizes wurde Ende des 19. Jahrhunderts errichtet.

Geblieben aus der weit zurück liegenden Zeit des Säumerwesens sind die klirrend kalten Winter, die milden, würzig duftenden Sommertage, das sonnendurchflutete Licht des Engadins, der weit schweifende Blick in die imposante Bergwelt und auf die glitzernden Seen auf der Passhöhe.

Die Fahrstrasse verläuft ausserhalb des Blickfeldes der Bahnreisenden und die Berninabahn bewegt sich mit wenigen Metern Abstand am Ufer des Lago Bianco entlang. Nach überqueren der Passhöhe erreicht die Bahn die Alp Grüm mit ihrem unbeschreiblichen Blick auf den Piz Palü.

Die Strasse aber und mit ihr auch die Wanderwege, suchen den bequemeren Abstieg durchs Val Agonè.

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Unterhalb der Passhöhe windet sich die Strasse direkt an der italienischen Staatsgrenze entlang ins Puschlav hinunter. Enge Serpentinen führen in das weiter werdende Tal.

Hinter den Serpentinen und dem Ort La Rösa folgt eine lange Hangtraverse bevor wir den Ort San Carlo und den Talboden des Puschlav erreichen. Bei La Motta zweigt die Livigno-Passstrasse ins gleichnamige, italienische Duty-Free-Paradies ab.

Vorbei an den Sommerdörfern La Motta, La Rösa und Pisciadello windet sich die Strasse talwärts.

Hier öffnet sich flankiert von Lärchen- und Arvenwäldern das idyllische Naturschutzgebiet Val di Campo (Val da Camp) mit seiner beeindruckenden Bergflora und den herrlichen Weideflächen.

In dessen Hintergrund blinken wie Augen die blauen Seen Lago di Saoseo und Lago Viola aus dunklen Tannenwäldern, umsäumt von Blockschuttmassen.

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Bernina-Bahn am Ufer des Lago Bianco, rechts oben die Masten der Fahrstrasse

Poschiavo Spaniolenviertel, herrschaftliche Architektur Bild: german_eagle virtualtourist.com

Unterhalb Pisciadello wird der Blick in die Tiefe frei, auf die ovale Talmulde, in der der Lago di Poschiavo ruht.

Zunehmend südländisches Flair umfängt den Reisenden bei der Weiterfahrt, ein zunehmend liebliches und von Landwirtschaft, später auch von Weinbau geprägtes Tal empfängt uns.

Hier wird der berühmte Veltliner gekeltert, ein leichter Wein, den die Schweizer vorwiegend selber trinken.

Noch ein paar Kilometer, und wir sind im malerischen Poschiavo (1014 m) angelangt.

Die italienische Architektur erinnert nun sehr an die kulturellen Wurzeln der Bewohner. Das Spaniolenviertel *) in Poschiavo mit seinen Zuckerbäcker-Verzierungen an den Häusern ist sehenswert.

Bereits ab dem 13. Jh. begann die Auswanderung mittelloser Bewohner der Bündner Bergtäler. Sie zogen erst nach Oberitalien etc., später nach Russland, Australien, Nord- und Südamerika. Häufig spezialisierten sie sich als Zuckerbäcker.

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Einige brachten es zu beträchtlichem Wohlstand - in Madrid, Barcelona und Porto wurden legendäre Confiserien und Restaurants von Puschlaver Familien geführt, oft unter dem Namen Suisse.

Viele der heimatverbundenen Puschlaver kehrten nach Jahren wieder in ihre Heimat zurück. Mit Stolz liesen die Erfolgreichsten unter ihnen im Spaniolenviertel in Poschiavo herrschaftliche Villen im «Zuckerbäcker-Stil» erstellen.

*) Als Spaniolen (deutsch, Sepharden) bezeichneten sich jene Juden und ihre Nachfahren, die bis zu ihrer Vertreibung 1492 und 1531 in Portugal und Spanien (Andalusien) lebten. Nach ihrer Flucht siedelten sie sich zum grössten Teil im Osmanischen Reich und in Nordwestafrika (Maghreb) an. Ein kleiner Teil dieser ca. 160'000 köpfigen sephardischen Diaspora liess sich in Nordeuropa nieder.

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Poschiavo, Casa Matossi-Lendi - Bild: german_eagle virtualtourist.com

Miralago, Lago di Poschiavo - Bild: chaeppi.hikr.org


Ab Poschiavo rücken Fahrstrasse und die parallel dazu verlaufende Berninabahn, die dort auch als Strassenbahn fungiert, wieder zusammen.

Auf weiter langsam abfallender Strecke führen Strasse und Bahntrasse durch die schönen Dörfer Li Curt und Le Prese an den Lago di Poschiavo. Immer in Ufernähe geht es am See entlang und durch das schon sehr südliche Örtchen Miralago.

Wir verlassen den See und begeben uns auf die Zielgerade in Richtung Tirano. Der Weg führt durch beidseitig der Strasse uns begleitende Wälder via dem Dorf Piazzo nach Brusio.

Hier erwartet uns, das unter Eisenbahn-Fans schon Kultstatus geniessende, Kreisviadukt mit dem legendären Bahntrassee. Für Eisenbahn-Fans stellt diese technisch fein austarierte Streckenführung eines der absoluten «highlites» auf der Stecke des Bernina Express dar.

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Im untersten Puschlav sind wir dann schon richtig im Süden. Da reifen Trauben, stehen Feigenbäume in den Hausgärten und wir finden an den Hängen Terrassenkulturen wie im Tessin.

«Rotweintrinker sind bessere Menschen», so klassifizierte Gottfried Keller (geboren 19. Juli 1819 in Zürich; gestorben 15. Juli 1890 ebenda) seine schweizer Mitbürger zu besseren Menschen, unbeabsichtigt wohl.

Nirgendwo wird mehr Veltliner getrunken, als in dieser Region, man bekommt dieses bekömmliche Tröpfchen tatsächlich kaum ausserhalb Graubündens und der Schweiz zu kaufen.

Obwohl der Grossteil des Anbaugebietes heute Dank Napoleon in Italien liegt, konsumieren die Eidgenossen diesen Trank bis heute vorwiegend als historische Rache selbst.

Früher musste hierfür das kostbare Gut geschmuggelt werden, wofür der Pass rege benutzt wurde.

Ungemein eindrücklich ist im Puschlav der Landschaftswandel auf recht kurzer Strecke, von der hochalpinen Gebirgswelt zu den südlichen Niederungen auf knapp fünfhundert Meter über Meer.

Unser Weg führt weiter über Campocologno an der italienische Staatsgrenze. Fast unbemerkt überqueren wir die Grenze und erreichen nach wenigen Kilometern das lebhafte Städtchen Tirano.

Hier endet die Reise über den Berninapass und hier endet auch die Berninabahn. Wir sind umgeben von Reben, Feigen und Maronibäumen . . .

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Tirano - Piazza Basilica, Chiesa Madonna di Tirano